Fotografie, Trauma & Erinnerung in Austerlitz
Der Autor W. G. Sebald genießt in der zeitgenössischen Germanistik einen privilegierten Status. Sowohl im deutschen, französischen und vor allem im englischen Sprachraum wird sein Werk behandelt. Besonders die Kombination von Wort und Bild, wie z.B. in Austerlitz, fasziniert. Der Roman behandelt den Lebenslauf von Jaques Austerlitz. Während des Erzählverlaufs enthüllt sich Schritt für Schritt das Schicksal der Hauptfigur, welcher in den vierziger Jahren als jüdisches Flüchtlingskind aus Prag nach Wales kommt und dort bei einer Pflegefamilie aufwächst. Im Verlauf des Romans versucht Austerlitz seine Biografie, die er einen Großteil seines Lebens verdrängte, zu rekonstruieren. Im Bezug auf den ausgeführten Erinnerungsdiskurs spielen Architektur (insbesondere Bahnhöfe) und Fotografien eine zentrale Rolle, wie die in den Textfluss eingefügten Illustrationen unterstreichen.
Auf den ersten Blick erscheinen die eingefügten Illustrationen in Austerlitz, bei denen es sich vorwiegend um schwarz-weiß Fotografien handelt, wie normal gebräuchliche Illustrationen. Traditionell dienen Illustrationen als Beiwerk, welche bildlich veranschaulichen, was im Text behandelt wird. Die Illustrationen in Austerlitz übersteigen jedoch diese Funktion. Sie dienen als Textersatz und Beglaubigung. Darüberhinaus geben sie dem Text Erzähl- und Handlungsimpulse, außerdem einen Anlass zur Reflektion über das Medium der Fotografie. Fotografien dienen als Leitmotiv der Geschichte und sind eng mit den Themenkreisen Erinnerung und Trauma verbunden. Sebald wertet die Rolle des Bildes auf. Es tritt mit dem Text in ein dialogisches Verhältnis mit ständigem gegenseitigen Bezugnahmen. Gelegentlich spitzt Sebald das Text Bild Verhältnis derart zu, dass man den Text ohne Bild Lückenhaft fände. Anderseits gibt es Stellen, in denen Text und Bild derart auseinander klaffen, sodass das Zusammentreffen der beiden Medien zufällig und unverständlich wirkt. Besonders im ersten Teil von Austerlitz werfen viele Bilder die Frage auf, wie sie in den Kontext des Textes integriert werden können. Die erste Fotostrecke zeigt beispielsweise zwei Augenpaare von im Nocturama lebenden Tieren, die in Analogie zu zwei menschlichen Augenpaaren gestellt werden.
Rätselhaft bleibt dabei zunächst nicht nur das Motiv ihrer Wiedergabe im Gang der Erzählung, sondern auch was sie eigentlich, in diesen Fall wen sie eigentlich darstellen. Im Verlauf des Textes wird Austerlitz vom Erzähler mit Wittgenstein verglichen, dabei betont dieser u.a. den gemeinsamen entsetzten Blick. Diese Ähnlichkeit zwischen Austerlitz und Wittgenstein wird vom Erzähler weiter ausgeführt. Sobald er auf eine Fotografie vob Wittgenstein stößt, scheint es ihm so, als blicke ihm Austerlitz entgegen. Beide Denker scheinen dem Erzähler zufolge über eine unsichtbatr Grenze hinweg zu studieren. In diesem Zusammenhang bekommen nun auch die zuvor eingefügten Fotografien der menschlichen Augen in Analogie zu den Augen der Tiere einen neuen Bedeutungszusammenhang. Es handelt sich bei einem Augenpaar um die von Wittgenstein. Die prägendste Erinnerung aus dem Nocturama sind laut Erzähler die großen Augen und deren forschender unverwandter Blick, wie man ihn sonst nur bei Forschern und Philosophen findet, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen das uns umgebende Dunkel zu durchdringen, eine Parallele zu Austerlitz, dessen Wunsch das Dunkle zu durchdringen als Handlungsmotiv dient. Bei dem Versuch die Vergangenheit zu vergegenwärtigen spielen die Bilder eine Schlüsselrolle. Die Fotografien sind eine Art Aktennotiz, ein Dokument um seine Texte zu beglaubigen. Der Protagonist ist von dem Wunsch ergriffen Beweise zu sammeln. Diese Beweise, seien es nun Fotografien oder sonstige Dokumente, fügen dem Text einen Wert bezüglich ihrer Erinnerungsfunktion hinzu. Bilder besitzen eine andere Objektivität als Worte, da sie nicht allein durch Assoziationen, sondern durch ihre Materialität bestimmt werden. Sebalds gesamtes Werk wird durch ein Spannungsverhältnis von Fakt und Fiktion ausgezeichnet. Er kombiniert vorgefundenes Bildmaterial mit seinen eigenen Fotografien. Die Fotografie einer Rugbymannschaft, auf der auch Austerlitz abgebildet ist, fand Sebald so z.B. auf einen Flohmarkt.
Ein weiteres Beispiel für die fließenden Übergänge von Fiktion und Realität bildet die Fotografie eines Schaufensters, in welchem der Fotograf in dieser Schaufensterscheibe reflektiert wird. Es kommt die Frage auf, ob es sich bei dem sich spiegelnden Fotografen um Austerlitz, Sebald oder einer anderen Person handelt. Sebald nutzt den Glauben des Rezipienten an die Authentizität von visuellen Beweisstücken aus, während er gleichzeitig die Grenzen der Repräsentierbarkeit in Frage stellt. Darüber hinaus werden durch das Einfügen der Fotografien bei dem Leser Gefühle geweckt, wie es allein der Text nicht schaffen würde. Der Text wirkt dadurch eindringlicher und wird für den Leser durch die Bilder erfahrbar gemacht.
Die Trennung von Flüchtlingskindern und deren Familie und das Leben in einem fremden Land, wurden traditionell nicht als traumatisches Erlebnis, sondern als Rettung eingestuft. Eine Theorie lautet, dass Kinder bis zum Alter von vier Jahren zu jung gewesen sein sollen um sich an etwas zu erinnern. Sie hätten sogar Glück gehabt, da sie kaum Erinnerungen hätten und diese somit auch nicht unterdrücken müssten. Die neuere Forschung vertritt eine andere Meinung. So geht man heutzutage davon aus, dass auch die geretteten Kinder trotz fehlender Erinnerung an Traumata leiden.
Ich lebe und daher bin ich schuldig. Ich bin noch hier, weil ein Freund, ein Kamerad, ein Unbekannter an meiner Stelle gestorben ist. (Elie Wiesel)
Auch Austerlitz verdrängt den Großteil seiner Erinnerung an die Vergangenheit. Darüber hinaus scheint er an der sogenannten Überlebensschuld zu leiden, kein ungewöhnliches Gefühl für Überlebende des Holocausts. Elie Wiesel, eine Überlebende der Schrecken des zweiten Weltkrieges beschreibt diese Schuldgefühle eindringlich. Sie fühlt sich schuldig, da ein anderer an ihrer Stelle gestorben ist. Diese Schuldgefühle sind auch bei Austerlitz zu finden, so lag er als Kind oft stundenlang wach, da er versuchte sich die Gesichter vorzustellen, die, wie er fürchtete, aus eigener Schuld verlassen zu haben.
Austerlitz‘ Architekturbegeisterung dient nach Ansicht des Protagonisten als Ersatz und Verdrängungsmechanismus. Austerlitz war immer bemüht sich an möglichst nichts zu erinnern und allem aus dem Weg zu gehen, was sich auf die eine oder andere Weise auf seine Herkunft bezieht. Er bildet eine Art Quarantäne- und Immunsystem. So dient seine Wissensanhäufung und seine gesammelten Fotografien als kompensatorisches Ersatzgedächtnis. Fotografien helfen jedoch auch, sich zu erinnern. Fotografie kann Theorien zufolge den Zugang zu Erlebnissen, die bisher verdrängt wurden, ermöglichen. In den frühen Traumatheorien des 19. Jahrhunderts wird das Trauma als Abdruck einer überwältigenden Realität auf den Geist, das zu einer Deformation der Erinnerung führt, beschrieben. Traumatische Erlebnisse betätigen eine Störung der Erinnerung, da sie nicht bewusst erlebt wurden. Genau wie eine Kamera mechanisch wiederholt was eigentlich nicht wiederholt werden kann, entsteht ein Trauma durch Erlebnisse, die sich als Eindrücke der Realität aufzeichnen. Es ist sozusagen fotografisch aufgenommen ohne Einbezug einer semantischen Erinnerung. Ein Ereignis muss nicht per se durch seinen Gehalt, traumatisch sein, sondern insofern es verhindert, dass das Ereignis als bewusste Erinnerung ins Gedächtnis integriert wird. Als Folge des Traumas wird das Subjekt aus dieser Welt im Sinne seiner angestammten Lebenswelt ausgeschlossen. Es leidet daran, nicht mehr dieselbe Person zu sein, wie vor dem Trauma und vor allem nicht mehr das ganze Selbst, als sei es seiner Seele beraubt und folglich nicht mehr in der Lage sich in der Realität zurechtzufinden.
Es stellt sich die Frage, ob die Rekonstruktion der Vergangenheit für den Heilungsprozess relevant ist, schließlich ist die Erinnerung mit der schmerzhaften Frage nach ihrer ursprünglichen Identität verbunden. Es gibt Befunde, die darauf hindeuten, dass die Lebensqualität von ‚child survivors‘, die ihre Identität verloren haben, niedriger sei als die von denen, die Ihre Identität bewahren konnten. Flora Hogman, selbst Überlebende des Holocausts, betont, dass die Erinnerung wichtig sei um die eigene Identitätsbildung zu ermöglichen und Trauerarbeit zu leisten. Gegenbeispiel ist der Fall einer Frau aus Ungarn, die den Holocaust im Kindesalter überlebte und keinerlei Erinnerung an ihre Kindheit hatte. Der Versuch die mit authentischen Gegenständen aus ihrer Vergangenheit zu konfrontieren, löste unmittelbar eine manische Phase aus, gefolgt von einer Depression und einen Suizidversuch. Auch Austerlitz Erinnerungsprozess bringt keine Heilung. Er erleidet mehrere psychische Zusammenbrüche, die er als Hysterische Epilepsie beschreibt.
Nach und nach entsann ich mich auch, wie es mir während der Fahrt auf einmal unwohl geworden ist, wie ein Phantomschmerz sich ausbreitete in meiner Brust und wie ich dachte, ich werde jetzt sterben müssen an diesem schwachen Herzen (…) Und einmal, so erinnerte ich mich nach Eintritt der Besserung, sagte Austerlitz, sah ich mich in einem dieser bewußtlosen Zustände selber, wie ich, erfüllt von dem schmerzhaften Gefühl, daß sich in mir etwas herauslösen wollte aus der Vergessenheit, (…) (W.G. Sebald in Austerlitz)
Laut Freud wird die hysterische Geistesverfassung von unbewussten Vorstellungen beherrscht. Das Krankheitsbild der Hysterie entsteht durch fehlgeschlagene Verdrängung. Trauma ist das Durcheinander von Erinnerung und Zeit. Aus diesem Grund benutzte Freud die Kamera als Metapher. Jede psychische Tätigkeit hinterlässt zunächst als Negativ eine Erinnerungsspur im Unterbewusstsein. Ob dieses Negativ ins Bewusstsein gelangt, also zu einem Positiv entwickelt wird, das entscheidet die Bewältigung von Abwehr und Widerstand. Desweiteren führt Freud aus, dass der Unterschied zwischen Vorbewusster und Unbewusster psychischer Tätigkeit erst nachträglich hergestellt wird, nachdem die Abwehr ins Spiel getreten ist. Falls Erinnerungsfragmente des traumatischen Erlebnisses in das Bewusstsein drängen, treten diese oft als Erinnerung einer bestimmten Szene auf, ohne dass die traumatisierte Person diese Szene mit dem eigentlichen Erlebnis assoziiert.
In Prag, dem Ort seiner Kindheit, von dem, soweit Austerlitz zurückdenken kann, jede Spur in seinem Gedächtnis ausgelöscht war, konfrontiert ihn sein ehemaliges Kindermädchen mit einer Fotografie, welche zwei nicht zu identifizierende Personen, eine Frau und ein Mann, auf einer Theaterbühne zeigt. Das Kindermädchen geht zunächst davon aus, dass es sich bei den beiden Figuren um die Eltern von Austerlitz handelt, jedoch negiert sie diese Vermutung wieder.
Während es Austerlitz leicht zu fallen scheint sich an alltägliche Dinge, wie die tschechische Sprache, oder Details, wie die Straßen Prags, bei denen es ihm so scheint, als wäre er diese Wege schon einmal gegangen, bis hin zu den vertrauten Händen seines Kindermädchens, zu erinnern, bleibt die Erinnerung an seine Eltern für ihn unzugänglich. Auch der Versuch die Erinnerung an seine Eltern anhand dieser Fotografie wieder herzustellen, scheitert. Trotzdem kommt diesem Bild eine Erinnerungsfunktion zugute. Es kann argumentiert werden, dass diese beiden Figuren aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu den Eltern von Austerlitz als Ersatz in die von ihm entwickelten Katastrophen hinein imaginiert werden um so einen Ausdruck für dessen traumatisches Schicksal zu finden. Proust beschreibt die Fotografie als medialisierte Erinnerung, welche mit der Gefahr eines Verlustes und der unaufhebbaren Desintegration der Vergangenheit verbunden ist. Der Besitz eines fotografischen Abbildes einer Person bewirkt, dass die reale Person und dessen Abbild miteinander verschmelzen. Dennoch droht ohne ein fotografisches Abbild die Erinnerung verloren zu gehen. Fotografien unterstützen die Erinnerung, dienen jedoch nicht als Vorlage, sondern als Medium der imaginären Vergegenwärtigung von Abwesenden. Erinnerung ist somit nicht nur auf die Fotografie angewiesen, sondern wird zugleich von ihr geformt.
Nachdem Austerlitz erfahren hat, dass seine Mutter in Theresienstadt interniert worden war, beginnt er mit der aktiven Suche nach dem Abbild seiner Mutter. Hierbei instrumentalisiert er neben der Fotografie auch das Medium des Films. Er versucht seine Mutter in der Dokumentation „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ zu finden. Austerlitz wird von der Hoffnung geleitet seine Mutter durch den Besitz einer Abbildung wiederzugewinnen. Laut Walther Benjamin steht das Porträt nicht zufällig im Mittelpunkt der Fotografie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder verstorbenen Lieben bildet das Bild die letzte Zuflucht. Sebald erweitert dieses Gedankenmodell. So wird Austerlitz nicht nur von Hoffnung geleitet, dass er seine Mutter in diesen Film finden würde. Es dient auch als Medium um sich in die Lebensverhältnisse hineinzuversetzen und sich vorzustellen, dass seine Mutter an einen solchen Ort gewesen sein soll. Dieses Gedankenmodell, welches Sebald anhand der Motivation der Romanfigur entwickelt, erweitert auch die Ausführungen des Literaturwissenschaftlers Ulrich Baers, der die Parallelen zwischen der Fotografie und dem Trauma untersucht. Laut Ulrich Baer nimmt die Fotografie, wie das Trauma, das auf, was nicht unbedingt vom Bewusstsein wahrgenommen wird. Sebald geht einen Schritt weiter. Für ihn sind Fotografien auch Substitute für traumatische Erlebnisse, die den Versuch von Austerlitz unterstützen, sich mit den Vorfällen, die er selbst nicht erlebt hat, auseinanderzusetzen. Die Fotografie wird ausschlaggebend für die Beschäftigung mit den unterdrückten traumatischen Erlebnissen, nicht weil es aufnimmt, was normalerweise vom Bewusstsein ausgeschlossen wird, sondern weil es einen Ersatz für diese Erlebnisse darstellt und es dem Betrachter einen Rückblick auf diese Vorfälle, die er nicht erlebt hat, ermöglicht. Austerlitz hofft zu sehen wie es in Wirklichkeit war.
Die Lagerthematik beschäftigt Austerlitz unbewusst schon in seiner Kindheit. Das Lager der Israeliten aus einer walisischen Kinderbibel, welches auf einer Doppelseite in Austerlitz illustriert ist, erinnert stark an ein KZ. Zugespitzt wird dieses durch die Bemerkung von Austerlitz, dass er sich selbst unter den winzigen Figuren, die dieses Lager bevölkern, sieht und ihm das Lager der Hebräer näher erscheint als sein Leben in Wales. Auch die im ersten Teil des Romans oft eingefügten sternförmigen Grundrisse von Festungsbauten bekommen in diesem Zusammenhang eine tiefere Bedeutung, denn auch Theresienstadt war ursprünglich als Festungsstadt konzipiert. Die Festungen dienen Austerlitz zur Annäherung an seine Vergangenheit, eine Parallele zu den Bahnhofsfotografien. Nicht nur Austerlitz muss sich die Erinnerung zurückkämpfen, nein auch der Leser muss sich die eingefügten Bilder am Anfang wieder in die Erinnerung rufen.
Allgemein spielen Architekturaufnahmen eine wichtige Rolle in Austerlitz. Mehr als 30 Fotografien zeigen architektonische Gebilde, die nicht selten von Verfall bedroht sind. Austerlitz vertritt die Meinung, dass Monumentalbauten einen Schatten der Zerstörung vorauswerfen und von Anfang an als Ruine konzipiert sind. Verfall und Zerstörung sind Allegorien auf die Vergänglichkeit und das Vergessen. Ruinen spielen eine wichtige Rolle, da sie die Notwendigkeit der Erinnerungsarbeit betonen. Wichtiges Pendant zu Theresienstadt ist die Festung Breedonk. Auch hier errichteten die Nationalsozialisten ein Straflager. Sebald fügte eine Reihe von Fotografien Breedonks ein, welche die Beschreibung der Anlage als monolithische Ausgeburt der Hässlichkeit und der blinden Gewalt, unterstützt. Wird in Breedonk das kollektive Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus und des Machtwillens anderer Herrscher deutlich, personalisiert sich das Schicksal in Theresienstadt, ist dies der Ort, indem Austerlitz Mutter interniert war. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht die historischen Ereignisse selbst, sondern die Nachkommen und Überlebenden des Holocausts. Dennoch ist der Holocaust zentral für Sebalds literarisches Schaffen. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik erfolgt jedoch indirekt. Die Suche nach seiner persönlichen Vergangenheit führt Austerlitz zu seiner persönlichen Katastrophe und das damit einhergehende Trauma. Daran geknüpft ist das kollektive geschichtliche Trauma des Holocausts, welches die Gegenwart in ein melancholisches Licht von Verlust, Fremdheit und Heimatlosigkeit stellt.
Nachdem Austerlitz eine Zeitlupenkopie des Films aus Theresienstadt anfertigen lassen hat und dieses wie besessen wieder und wieder angeschaut hat, entdeckt er das Gesicht einer Frau, die, wie er zu erkennen glaubt, seine Mutter sei. Dieses fast schon besessene Konsumieren dieses Bildes findet eine Analogie in der Kindheit von Austerlitz. Immer wieder betrachtet er als Kind die Fotografien, welche die Bevölkerung von Llawddyn zeigen, die einer Flut zum Opfer gefallen sind. Die Bilder werden ihm so vertraut, so als lebe er mit den Fotografierten auf dem Grund des Sees. Diese beschriebene Vertrautheit bildet sich beim Betrachten den vermeintlichen Fotografien seiner Mutter nicht, sie bleibt ihm fremd.
In der dritten Fotografie, welche Austerlitz in einen Theaterarchiv ausfindig macht, erfüllt sich letztendlich der Wusch, ein authentisches Abbild seiner Mutter zu finden. Besonders in diesem Portrait wird der ambivalente Charakter, den Fotografien in sich haben, deutlich. Zum einen ist seine Mutter tot, sie wurde Opfer des NS-Regimes, doch in der Fotografie ist die präsent.
Susan Sontag stellt die Behauptung auf, dass alle Fotografien „Memento Mori“ seien und Roland Barthes vertritt die Meinung, dass jede Fotografie den Rezipienten dazu bringt über die Katastrophe die sich schon ereignet hat zu schaudern. Ulrich Baer argumentiert, dass die Faszination der Fotografie von Anfang an in ihren augenscheinlichen Versprechen bestand, die Zeit anzuhalten. Jede Fotografie bewahrt das Aussehen des abgebildeten Menschen, eine Szene, eine Stimmung oder einen Ort, doch markiert und unterstreicht jedes Foto gleichzeitig wie hinfällig der Augenschein ist. In jeder Fotografie wird seit jeher der Tod als unsichtbares Negativ erblickt. Schon im Bezug zu der ersten vermeintlichen Fotografie der Mutter wird dieser negative Bezug zur Fotografie deutlich.
Man habe den Eindruck, sagte sie, es rühre sich etwas in ihnen, als vernehme man kleine Verzweiflungsseufzer, (…) als hätten die Bilder selbst ein Gedächtnis und erinnerten sich an uns, daran, wie wir, die Überlebenden, und diejenigen, die nicht mehr unter uns weilen, vordem gewesen sind. (W. G. Sebald in Austerlitz)
Diese Todesnähe ist auch gerade im Zusammenhang mit dem Theresinestädter Film nicht nur metaphorisch zu verstehen, denn so wurden nach Abschluss des Filmes die Darsteller nach Ausschwitz deportiert, wo sie zumeist starben. Wie zuvor erwähnt mischt Sebald Fiktion und Realität, was die Eindringlichkeit für den Leser verstärkt. Auch in der Fotografie aus dem Theaterarchiv ist der Tod präsent, stilistisch verdeutlicht durch den eindringlichen Hell-Dunkel Kontrast. Licht und Dunkelheit stehen sich in Sebalds Illustrationen oft gegenüber und decken die Melancholische Sicht auf die Welt auf. Die Fotografie hat die Mutter von Austerlitz überlebt, was bleibt ist die verschwommene Erinnerung. Das Portrait der Mutter wird zum Abbild der Vergangenheit. Die Annahme liegt nahe, dass die Bilder die gleiche Rolle wie in einen Familienalbum übernehmen, und zwar nicht nur als Belege eines Augenblicks in der Vergangenheit, sondern auch als künftige Anregung der Erinnerung, Souvenirs, Pfänder und Kondensate unwiederbringlich vergangener Zeit fungieren.
Einmal sprachen Freunde über Kindheitserinnerungen, sie besaßen solche, ich aber hatte gerade meine alten Fotos angesehehen und besaß keine mehr. Nicht nur ist das Foto seinen Wesen nach niemals Erinnerung, es blockiert sie vielmehr, wird sehr schnell zur Gegenerinnerung (Roland Barthes)
Im Falle der Pagenfotografie auf dem Cover des Buches schafft dieses Medium jedoch entgegen ihres Realismus und ihrer anscheinenden Unmittelbarkeit keinen Zugang zu der Person, die sie abbildet. Austerlitz kann sich an sich selbst nicht erinnern. Er erkennt zwar seinen Haaransatz, doch sonst ist alles in ihm ausgelöscht von dem überwältigenden Gefühl der Vergangenheit. Austerlitz Erinnerung ist nicht mit der Pagenfotografie vereinbar. Das Kind bleibt ihm wie zuvor schon seine Mutter fremd. Besonders interessant ist der stilistische Aufbau dieser Fotografie bezüglich der Traumametaphorik und dem Erinnerungsdiskurs. So werden das Trauma und die Katastrophe, die nicht nur seine Familie, sondern ganze Europa betrifft, indirekt durch den möglicherweise gebrochenen Arm des Pagen vorweggenommen. Darüber hinaus wird Austerlitz Erinnerungslücke durch den verschwommenen Fleck über den Kopf des Kindes erfahrbar gemacht. Sebald macht in diesen Zusammenhang die Elemente Vergessen und Verdrängen durch das Stilmittel der Unschärfe für den Leser sichtbar. Es wird durch diese Fotografie verdeutlicht, dass dieses Medium nicht immer dabei hilft, das Dunkel aufzulösen, sondern es zum Teil sogar verstärkt. Roland Barthes stellt eine vergleichbare Hypothese auf. Seiner Meinung nach ist die Fotografie nicht in der Lage Erinnerungen aufzufrischen und zu wecken. Der Zusammenhang zwischen Fotografie und Erinnerung ist negativ, die Erinnerungsarbeit wird durch Fotografien beeinträchtigt.
Auch in Austerlitz kann die Fotografie die Erinnerung an die vergangene Realität nicht leisten. Die Auslöschung seiner Kindheit wiederholt sich im Angesicht des Pagenfotos. Die Struktur des Traumas wird sogar durch die Pagenfotografie intensiviert, denn der Betrachter der Fotografie ist zeitgleich Motiv der Fotografie. Austerlitz blickt in das Gesicht seines ignoranten und verlorenen früheren Ichs, eine Wiederholung und zugleich Vorausnahme. Nicht nur, dass die Fotografie keinen Zugang zu seinen verdrängten Erinnerungen schafft, wie bei den Fotografien seiner Mutter, nein Austerlitz scheint die Fotografie des Pagen auch zu verstören. So wagt er es zunächst auch nicht die Fotografie überhaupt anzufassen. Austerlitz erfüllt blinde Panik, wenn er an den Pagen denkt.
(…) und immer fühlte ich mich dabei durchdrungen von dem forschenden Blick des Pagen, der gekommen war, seinen Teil zurückzufordern und der nun im Morgengrauen auf dem leeren Feld darauf wartete, daß ich den Handschuh aufheben und das ihm bevorstehende Unglück abwenden würde. (W. G. Sebald in Austerlitz)
Das Scheitern der Erinnerung kann mit Marcel Proust entwickelten Modell der ‚Memoire Volontaire‘ verglichen werden, welche die Reproduktion und identische Wiederholung von bereits Erinnerten ist. Diese Erinnerungserfahrung, einer von allen Kontexten isolierten Vergangenheit, wird bei Proust mir der medialen Fixierung des Sichtbaren durch die Fotografie verglichen. Bei dem Vergleich spielen der Akt der fotografischen Aufnahme und seine Differenz zur unmedialisierten Aufnahme eine große Rolle, denn im Gegensatz zum menschlichen Blick, registriert die Kamera die Umgebung und Realität unvoreingenommen und objektiv. In Prousts Roman „Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit“ versagt dieses Modell. Jedes Mal wenn der Protagonist Marcel sich an seine Kindheit zu erinnern versucht, entstehen in seiner Vorstellung verzerrte Bilder die wenig geeignet sind, sein vergangenes Ich wiederauferstehen zu lassen. Laut Proust lässt sich Vergangenes nicht zufällig erfassen, es liegt in der Tiefe der Innerlichkeit und vermag einzig in einer spontanen Bewegung herauszukommen. Nicht nur beim Betrachten der Fotografien scheitert dieses Modell auch in Austerlitz, auch als der Erzähler sich an die Festung Breedonk zu erinnern versucht, löst sich das Dunkel nicht auf, sondern verdichtet sich. Im Prager Wilsonbahnhof wiederholt sich dieses Phänomen. Als Austerlitz all seine Energie einsetzt um sich an die Details seiner Abfahrt aus Prag zu erinnern, bleiben seine Erinnerungen fragmetarisch und unscharf. Es wird deutlich, dass die Fotografie und der Versuch der bewussten Erinnerung untrennbar mit dem Versagen und der Latenz der Erinnerung verbunden sind.
Manchmal schien es, als ob sich die Schleier teilen wollten; glaubte ich für einen Bruchteil vielleicht einer Sekunde, die Schulter Agatas zu spüren (…) doch sowie ich eines dieser Fragmente festhalten oder, (…) schärfer einstellen wollte, verschwand es in der über mir sich drehenden Leere. (W. G. Sebald in Austerlitz)
Austerlitz wird gleich zu Beginn des Romans als Fotograf vorgestellt. Seine Fotografien erscheinen zunächst als Symptom der Erinnerungslosigkeit, werden jedoch im Laufe der Erzählung Teil der Denk und Erinnerungsarbeit. Austerlitz fotografiert um sich zu sammeln und wählt Dinge als Motiv, die bei ihm einen Reflex des Wiedererkennens auslösen. Fotografien dienen sowohl als Medium der Erinnerung, haben jedoch auch einen symptomatischen Charakter. Austerlitz fotografiert Dinge, die er in Prag später wiederfinden wird und als Teil seiner Kindheit wiedererkennen wird. Dieser Charakter der Fotografien zeugt von dem Widerstand gegen das Aufkommen der Erinnerung und zugleich von der Suche nach ihr. Austerlitz stellt Fotografien als Ersatz her, in denen das Nichterinnerte auftaucht. Es handelt sich dabei um eine Kompromisslösung zwischen dem Erinnern und dem Vergessen, die Fotografien fungieren als ein kompensatorisches Ersatzgedächtnis. Dieses Modell wird bezüglich seiner Ohnmachtsanfälle mit denen das Auslöschen sämtlicher Gedächtnisspuren verbunden ist, ausgereizt. Die Fotografien welche Austerlitz während seines Besuches der ‚Maison Alford‘ aufgenommen hat, vergisst er nachträglich, doch genau diese Fotografien helfen ihm nachträglich bei der Rekonstruktion der verschütteten Erlebnisse. Offen bleibt jedoch, ob die nachträglich entwickelten Fotografien den Prozess des Wiedererinnerns aktivieren, oder ob sie einen Ersatz für die Rekonstruktion der verlorenen Erlebnisse darstellen. Die abweisenden stummen Häuserfronten, welche Austerlitz während seines Theresienstadt Besuches beschreibt, werden durch eine Fotostrecke, die vor allem die menschenleeren Straßen, Hausfassaden und verschlossenen Türen als Motiv abbilden, hervorgehoben.
Die Bedeutung dieser Fotografien bekommt mit den im Text immer wieder auftauchenden Architekturmetaphern im Bezug auf die Erinnerung einen weiteren Bedeutungskreis. Austerlitz erklärt, dass ihm die Türen und Tore in Theresienstadt am unheimlichsten erschienen. Er meint zu spüren, dass sie ihm den Zugang zu einem nie durchdrungenen Dunkel versperrten. Es ist zudem die Rede von Türen, hinter denen sich die Schrecken der Kindheit verbergen. Sebald scheint implizit Stellung in der Debatte über die Darstellung des Holocausts zu beziehen. Die Türen von Theresienstadt sind kein Versuch das Nichtdarstellbare sichtbar zu machen, sondern mit ihnen werden die Spuren der Geschichte in den übriggebliebenen Objekten aufgesucht. Orte und Dinge werden als Speicher von Gedächtnis im Sinne der historischen und individuellen Vergangenheit konzipiert.
Im Bezug auf den Erinnerungsdiskurs spielen auch Bahnhöfe eine zentrale Rolle. Austerlitz ist von Bahnhöfen und der Idee eines Netzwerkes fasziniert. Er sucht während seines Studiums und seiner Pariser Zeit fast täglich einen Bahnhof auf und empfindet sie als Glücks- und Unglücksort zugleich. Auf Bahnhöfen gerät er in für ihn unbegreifliche Gefühlsströmungen. Bei seinen Studien über die Architektur der Bahnhöfe kann er nie den Gedanken an die Qual des Abschied Nehmens und die Angst vor der Fremde aus dem Kopf bringen. Das Interesse für Bahnhöfe scheint aus dem Unbewusstsein zu kommen, denn zentral für Austerlitz Kindheit ist die Zugfahrt nach England. Auch die mit der Trennung seiner Mutter verbundenen negativen Gefühle werden schon vor Aufdeckung seiner Vergangenheit bewusst. Dem Freudschen, von Walther Benjamin übernommenen Verdrängungskonzept entsprechend, hat Austerlitz unbewusst die vergessenen Spuren seiner traumatischen Vergangenheit in sein Gedächtnis deponiert. Unbewusst ist all das, was verdrängt worden ist. Dennoch ist laut Freud das Unbewusstsein eine permanent wirksame Kraft und keine Büchse der Pandora, die nur dann Auswirkungen hat, wenn man ihren Inhalt ans Tageslicht lässt. So hat Austerlitz bei einem Marienbadbesuch keinerlei Erinnerung, dass er diesen Ort schon als Kind besucht hat, dennoch scheint die Erinnerung unbewusst Einfluss auf seinen Gemütszustand zu nehmen, denn so begegnet er diesen Ort mit blinder Angst.
Fanden im ersten Teil Bahnhöfe aus Belgien und Paris Erwähnung, spielen im zweiten Teil des Romans die Liverpoolstreetstation und der Wilsonbahnhof eine signifikante Rolle. Die beiden Bahnhöfe sind eng mit der Vergangenheit Austerlitz verwoben. Immer wieder zieht es Austerlitz zur Liverpoolstreetstation. Dort verspürt er eine Art Herzweh, welches, wie er ahnt durch den Sog der verflossenen Zeit verursacht wird. Auf einen dieser Besuche entdeckt er den Ladies Waiting Room, von dessen Existenz er zuvor nichts wusste. Aus dem nichts kommend erinnert sich Austerlitz in diesen Raum an seine Ankunft in England, die fünfzig Jahre zurückliegt. Erinnerungsfetzen beginnen durch die Außenbezirke seines Bewusstseins zu treiben. Er sieht nicht nur seine neuen Zieheltern, sondern auch sich selbst als Knabe in genau diesen Ladies Waiting Room. Diese Szene kommt der Illusion eines Traumes nahe. Die Vergangenheit erscheint nicht nur als Erinnerung sondern als wiedererlebte Wirklichkeit, verschiedene Zeitstufen verschmelzen. Diese Erfahrung deckt sich mit Freuds Theorie, dass Verdrängtes in dem Geist gegenwärtig bleibt, jedoch im Bewusstsein latent. Verdrängte Erinnerungen oder Wunschvorstellungen wechseln zwischen dem Bewusstsein und Unbewusstsein hin und her. Verdrängtes kann bewusst wahrgenommen werden, dann jedoch auch wieder aus dem Bewusstsein verschwinden.
Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, (…) alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, (…) als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit. (W. G. Sebald in Austerlitz)
Dieses fotografisch genaue spontane Auftreten der Erinnerung wiederholt sich im Prager Bahnhof. Auslöser ist hier die Glas und Stahlbedachung, die er so wie er meint, schon einmal im gleichen Halblicht gesehen zu haben. Der flüchtige Blick auf das Dach, welches auch fotografisch abgebildet ist, wirft ihn zurück in die Vergangenheit. Vergleichbar ist dies mit den ornamentalen Fotografien, die er mit Vorliebe macht. Sie sind Zeichen für die vergessenden Dinge. Die Fotografie entwickelt ihren vollen Bedeutungsgehalt als Ersatz für die Erlebnisse die für das Bewusstsein nicht zugänglich sind, die blitzartig erscheinen, dann jedoch wieder verschwinden. Was die Pagenfotografie und die Fotografien der Mutter nicht leisten konnten, das vermögen zufällige Details, welche ein Wiedererinnern in Austerlitz auslösen, vom Ladieswaitingroom, als konkreter Ort, bis hin zu einen Radiobeitrag über den Kindertransport, welchen Austerlitz zufällig mithört.
Prousts entwickeltes Modell der ‚Memoire Involontaire‘ kann hierbei zum Vergleich herangezogen werden. Bei der ‚Memoire Involontaire‘ handelt es sich um eine unwillentliche, durch Sinneserfahrungen evozierte Erinnerung. Laut Proust kann nur das Bestandteil der ‚Memoire Involontaire‘ werden, was nicht ausdrücklich vom Bewusstsein erlebt worden ist, etwas was dem Subjekt nicht als Erlebnis widerfahren ist. Ein traumatisches Erlebnis so zum Beispiel. Auch Proust bedient sich der Fotografiemetaphorik. Solange der Zufall der ‚Memoire Involontaire‘ ausbleibt, ruht die Vergangenheit im Gedächtnis wie ein unentwickelter Film. Es handelt sich um eine nachträgliche Entwicklung der aufgenommenen Eindrücke zu Erinnerungen. Mit der Unmöglichkeit seine inneren Bilder zu fixieren, wird Austerlitz Erinnerungsproblematik aufgerufen. Dieses blitzartige Auftauchen einer Erinnerung wird auch in dem Turnergemälde, welches in Austerlitz reflektiert wird, behandelt. Turner versucht so mit seinen Pinselstrichen die sogleich wieder zerfließenden Visionen festzuhalten. Die Ambivalenz des blitzartigen Auftauchens und wieder Zerfließen wird bildlich auch im Theresienstadtfilm festgehalten. Es werden bei der Verlangsamung Dinge, die bis dato verborgen geblieben sind, sichtbar. Im gleichen Moment lösen sich die Körperformen an den Rändern jedoch auf und werden unscharf. Dieses wird zudem in der Beschreibung des Entwicklungsprozesses von Fotografien deutlich.
Besonders in den Bann gezogen hat mich bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht, genau wie Erinnerungen, sagte Austerlitz, die ja auch inmitten der Nacht in uns auftauchen und die sich dem, der sie festhalten will, so schnell wieder verdunkeln, nicht anders als ein phtogoraphischer Abzug, den man zu lang im Entwicklungsbad liegenläßt. (W. G. Sebald in Austerlitz)
Sebald parallelisiert den Prozess der Erinnerung mit dem fotografischen Prozess. Fotografien können zerfließen und unleserlich werden, genauso wie Erinnerungen. Auch die von Sebald eingefügten Bilder sind nicht scharf bis ins letzte Detail und sie zielen auf keinen Fall auf eine totale Raumerscheinung ab, vielmehr sind sie lückenhaft und verschwommen. Die Fotografien in Austerlitz sollen Erinnerungsbilder darstellen und die Rückschau in die Vergangenheit ist für Sebald nun einmal ein lückenhafter Vorgang. Der Kern des ausgebreiteten Erinnerungsdiskurses ist die Unmöglichkeit die inneren Bilder festzuhalten. Was bleibt ist die Frage wie man sich erinnert und was man am Ende nicht entdeckt.
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Die abgebildeten Fotografien sind dem Buch Austerlitz von W. G. Sebald entnommen.